Im Unterschied zu schleichend wechselnden Moden und Gestaltungstrends, die sich erst in der Retrospektive zu Stilepochen klammern lassen, erfolgen bei abrupten gesellschaftlichen Wandlungen die ästhetischen Brüche radikal synchron. Weil sich
Produktionsbedingungen und Materialitäten ändern, Verfügbarkeiten und Konsumaffekte springen, verlaufen politische Neuordnungen auch entlang gestalterischer Grenzen. Der kollektive Zeichenvorrat, der in öffentlichen Kunstwerken, Fernsehserien und Schlagertexten, Schriftarten und Produktdesigns, Lebensmittelverpackungen oder Werbeanzeigen angelegt ist, ist in diesem Falle mehr als nur Quelle von Nostalgie. Er wird zur Chiffre einer verschwundenen Gesellschaftsformation.
Die 1983 in Gotha geborene Künstlerin Kristin Wenzel arrangiert in ihren Installationen und Reliefs zeittypische Motive der sogenannten „dritten Generation Ostdeutschland“ – in der DDR geboren, in der BRD aufgewachsen – zu zeichenhaften Sinn- und
Stimmungsbildern. Wie die Palme auf der Fototapete damals die Projektionsfläche für unerreichbare geografische Fernen war, steht sie nun für die zeitlichen Fernen vergangener Kindheit. Zwischen Heimat und Fremde, Fernweh und diffusen Sehnsüchten bewegt sich Kristin Wenzel in der Gefühlswelt einer Romantik, deren künstliche Ruinen heute die Betonformsteine bröckelnder Hinterhofbebauungen sind: „Ich durchforste regelmäßig mein Archiv an Kindheitsfotos, wenn ich mit einer bestimmten Erinnerung konfrontiert werde. Dabei ist mir aufgefallen: Auf Spiel- und Sportplätzen, im Ferienlager an der Ostsee – überall diese Mauern mit den Formsteinen.“
Dieses in Kristin Wenzels Installationen häufig wiederkehrende Motiv ist inspiriert von den konstruktivistischen Künstlern Karl-Heinz Adler und Friedrich Kracht. Die von ihnen seit den 1960er-Jahren entwickelten seriellen Betonformsteinsysteme fanden landesweit Verwendung bei der Stadtmöblierung und Fassadengestaltung. „Die Architektur der ‚Ostblockstaaten‘ war Ausdruck einer Utopie, und heute sehen wir das als gescheitert an. Trotzdem spürt man beim Betrachten, dass solche Gebäude oder
teilweise ganze Städte beides in sich tragen. Das Scheitern, aber auch dieses Gefühl von ‚wir erträumen etwas‘. Die Formsteine stehen quasi stellvertretend dafür.“ Die Funktion einer Mauer wird bei den Formsteinwänden aufgehoben, weil man durchschauen kann. Den utopischen Anspruch zwischen Abgrenzung und Durchlässigkeit hat die Gesellschaft in ihrer Abgeschlossenheit nicht eingelöst. Die Formsteinraster werden so als Zeichen einer überwundenen Geschichte gelesen, und gerade weil sie verschwinden als solche konserviert. Die weniger robusten Nachinszenierungen Kristin Wenzels aus Graupappe oder Holzfaserplatten spiegeln das Paradoxe, das Denkmälern und architektonischen Hinterlassenschaften untergegangener Gesellschaften eigen ist: Für die Ewigkeit geschaffene Kunst im öffentlichen Raum hat die Eigenschaft bemerkenswerter Kurzlebigkeit.
„Ich erarbeite mir ein eigenes Lexikon der Bilder“, sagt Kristin Wenzel. Ausgehend von einer Sammlung alter Postkarten, persönlichen Kinder- und Familienfotos sowie Reisefotografien stellt sie aus einer Vielzahl von Mustern, Objekten, Formsteinmodellen und Fotozitaten dreidimensionale Erinnerungsbilder her. Keine „authentischen“ Stimmungen und Atmosphären werden gesammelt, sondern solche, die durch private Archivlagen evoziert werden: gemeinsames Fotoalbenblättern, Urlaubspostkarten, Diavorträge – all jene medialen Techniken, die in der Aufführung kollektiver Zeichenvorräte Zusammengehörigkeiten definieren.
Marcel Raabe lebt und arbeitet als Journalist und Autor in Leipzig
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